Krupp-Stiftung setzt Forschungsprojekt zur Haltung ihres Stifters Alfried Krupp zum Nationalsozialismus fort
Von Prof. Dr. Eckart Conze geleitete unabhängige Quellenrecherche sieht Potenzial für vertiefende Forschung
Expert*innenrunde spricht sich für weitere Forschung und eine multiperspektivische Publikation aus
Essen, 14. Juli 2023 – Das im Februar 2022 von der Krupp-Stiftung initiierte und von Prof. Dr. Eckart Conze geleitete Rechercheprojekt hat Quellen zutage gefördert, die Aufschluss über die Haltung von Alfried Krupp zum Nationalsozialismus geben könnten. Diese sollen im Rahmen weiterer Forschung untersucht und ausgewertet werden und in einer Publikation münden. Aspekte, die dabei näher beleuchtet werden sollen, sind unter anderem die Mitgliedschaften Alfried Krupps in NS-Organisationen ebenso wie die sogenannte „Landsberghilfe“, ein informelles Unterstützungsnetzwerk für Mithäftlinge Krupps im alliierten Kriegsverbrechergefängnis Landsberg, und der Themenkomplex „Zwangsarbeit“. Eine Expert*innenrunde, die die Ergebnisse des Rechercheprojekts diskutierte, empfiehlt die Fortsetzung der Forschung und ein multiperspektivisch angelegtes Publikationsprojekt.
Prof. Dr. Eckart Conze ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Philipps-Universität Marburg und Experte für die Geschichte und Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus. Das Ziel des von ihm geleiteten Projekts bestand darin, historische Quellen zu recherchieren, die es erlauben, der Person Alfried Krupps näher zu kommen und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus genauer zu beleuchten.
Start des Projekts: Quellenrecherche
Das Projekt umfasste die Identifizierung, Sichtung und Analyse neuer bzw. noch nicht systematisch untersuchter Quellen zu Alfried Krupp und seiner Haltung zum Nationalsozialismus seit den 1920er Jahren. Es erweiterte bewusst den Zeitraum des „Dritten Reiches“ 1933-1945 und bezog sowohl die Haltung Alfried Krupps (1907-1967) in der Weimarer Republik ein als auch den Umgang Krupps mit der NS-Vergangenheit in der Zeit der Bundesrepublik. Dabei sollte der Blick über das unternehmerische Handeln Alfried Krupps hinausgehen und auch andere Dimensionen berücksichtigen, beispielsweise politische Positionen oder private Äußerungen.
Gemeinsam mit seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter, Dr. Jens Brüggemann, stellte Prof. Conze eine konsistente Recherchestrategie für das Projekt auf, die darauf abzielte, potenziell aussagekräftige Quellenbestände zu bestimmen. Dafür wurden Datenbanken und Findmittel von zahlreichen nationalen und internationalen Archiven eingesehen, von denen schließlich 14 für eine systematische Quellenrecherche ausgewählt wurden. Neben dem Historischen Archiv Krupp, das für die Quellenrecherche als wichtigste Anlaufstelle galt und den Wissenschaftlern uneingeschränkt zur Verfügung stand, waren dies drei Abteilungen des Bundesarchivs, vier Staats- und Landesarchive, das Archiv des ITS-Arolsen, des Instituts für Zeitgeschichte und zweier KZ-Gedenkstätten sowie die Dokumentations- und Forschungsstelle für Sozialversicherungsträger. Eingesehen wurden private und geschäftliche Unterlagen Alfried Krupps, verschiedener Familienmitglieder und anderer Akteure aus dem Konzernumfeld oder dem Freundes- und Bekanntenkreis, darunter Schriftwechsel, Besprechungsniederschriften, Notizen, Kalender, Partei- und SS-Unterlagen ebenso Akten aus Ministerien, der Wehrmacht, der Gestapo sowie der Verteidigung und Anklage des Nürnberger Krupp-Prozesses. Die eingesehenen Akten und Bestände wurden anschließend im Hinblick auf ihre Aussagekraft und weitere Forschungsmöglichkeiten bewertet.
Prof. Dr. Eckart Conze: „Ausgewählte Tiefenbohrungen innerhalb der Quellenrecherche haben Potenziale offengelegt, denen nachzugehen sich fraglos lohnt. Eine Fortsetzung des Projekts birgt die Chance, ein präziseres Bild über das Verhältnis Alfried Krupps zum Nationalsozialismus zu gewinnen und dadurch zugleich einen wichtigen zeithistorischen Forschungsbeitrag zu leisten.“
Potenziale für Fortsetzung des Projekts
Fragen, die im Zuge einer fortgesetzten Forschung Aufschluss über die Haltung Alfried Krupps zum Nationalsozialismus geben könnten, beziehen sich beispielsweise auf seine fördernde Mitgliedschaft in der SS und seinen vergleichsweisen späten Eintritt in die NSDAP Ende 1938. Weitere Fragen richten sich auf die sogenannte „Landsberghilfe“, ein informelles Unterstützungsnetzwerk, das in den 1950er Jahren aus der Haft entlassenen Kriegsverbrechern aus dem alliierten Gefängnis in Landsberg bei der Eingliederung in die Gesellschaft geholfen hat. Alfried Krupp hat nach seiner Entlassung aus dem Landsberger Gefängnis punktuell Kontakt zu ehemaligen Mithäftlingen gehalten und sie teilweise finanziell, aber auch immateriell unterstützt. Conze und Brüggemann haben über 200 Personen ausgemacht, die Unterstützungsleistungen erhielten, darunter SS-Mitglieder, Angehörige der Gestapo, der Wehrmacht und NS-Funktionäre. Ein weiterer noch nicht vollständig erforschter Themenkomplex betrifft die Beschäftigung von Zwangsarbeiter*innen durch die Firma Krupp: Hier geht es um die Frage der Beteiligung Alfried Krupps an den Planungen für eine Produktionsstätte in Auschwitz und den Einsatz von KZ-Zwangsarbeiter*innen, aber auch um die Erforschung der Informationen, über die er verfügte.
Expert*innenrunde diskutiert nächste Schritte
Nach Abschluss der Recherchen hat die Stiftung eine Expert*innenrunde eingeladen, um die Ergebnisse des Quellenprojekts zu diskutieren und Empfehlungen für weitere Schritte zu entwickeln. Die Runde setzte sich aus ausgewiesenen Historiker*innen zusammen, darunter Prof. Dr. Simone Derix, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Prof. Dr. Norbert Frei, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Prof. Dr. Cornelia Rauh, Leibnitz Universität Hannover, Jun.-Prof. Dr. Eva-Maria Roelevink, Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Prof. Dr. Joachim Scholtyseck, Universität Bonn. Unter den Historiker*innen bestand Konsens darüber, dass eine Fortsetzung der Forschung sinnvoll sei und neue Erkenntnisse zutage bringen könne.
Fortsetzung des Projekts
Gemäß der Empfehlung der Expert*innen setzt das Folgeprojekt zunächst auf einen multiperspektivischen biographischen Ansatz und wird sich in weiterer Forschung und einer Publikation mit Beiträgen von etwa acht bis zehn Autor*innen unterschiedlicher Expertisen Alfried Krupp intensiver zuwenden. Dabei geht es um seine Sozialisation durch das familiäre Umfeld, seine Rolle als Unternehmer und Privatperson. Welchen Einfluss hatte sein familiäres Umfeld auf seine Entscheidungen? Wie hat er den Krieg bewertet? Wie sahen seine Handlungsspielräume aus? Warum hat Alfried Krupp in den 1950er Jahren seine Landsberger Mithäftlinge unterstützt? Welches Bild des Nationalsozialismus vertrat er? Wie sah er seine eigene Rolle in der NS-Zeit? Diese und weitere Fragen werden die vertiefte Forschungsarbeit leiten. Der multiperspektivische Band wird auch in englischer Sprache erscheinen. Begleitend wird eine digitale Anwendung erarbeitet mit dem Ziel, die Geschichte Alfried Krupps möglichst barrierearm und ortsunabhängig zu vermitteln und insbesondere auch junge Zielgruppen zu erreichen. Die Stiftung fördert das Projekt, das auf etwa zwei Jahre ausgelegt ist, mit bis zu 150.000 Euro.
„Uns ist bewusst, dass wir es mit einem komplexen Sachverhalt zu tun haben: Als Stiftung stehen wir in der Verantwortung, Alfried Krupps Vermächtnis umzusetzen, das heißt mit dem von ihm vererbten Vermögen gemeinnützige Projekte zu initiieren und zu fördern und dem Allgemeinwohl zu dienen. Gleichzeitig ist es unsere Verantwortung, den Menschen Alfried Krupp und seine Haltung zu hinterfragen. Indem wir die Forschung nun fortsetzen, kommen wir dieser Verantwortung nach und tun dies gründlich und auf der Grundlage wissenschaftlich belastbarer Erkenntnisse“, sagt Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Gather, Kuratoriumsvorsitzende der Krupp-Stiftung.
Über Alfried Krupp von Bohlen und Halbach
Alfried Krupp von Bohlen und Halbach wurde 1907 als ältester Sohn von Bertha und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach in eine Industriellenfamilie geboren. Früh wurde er auf seine Führungsrolle vorbereitet, die er 1943 als Alleininhaber des Unternehmens übernahm. 1945 wurde er von US-Truppen verhaftet und unter Arrest gestellt. 1948 wurde er im Zuge des Nürnberger Krupp-Prozesses zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und 1951 begnadigt. 1953 übernahm er wieder die Leitung der Firma Krupp. 1967, kurz vor seinem Tod, verfügte er, sein Privat- und Firmenvermögen in eine gemeinnützige Stiftung einzubringen. Die Stiftung nahm 1968 ihre Arbeit auf und verwendet die ihr zufließenden Erträge aus ihrer Unternehmensbeteiligung, die mittlerweile bei 20,93 Prozent liegt, für die Förderung von Wissenschaft, Bildung, Kunst und Kultur, Gesundheit und Sport.
Das unternehmerische Handeln Alfried Krupp von Bohlen und Halbachs im Nationalsozialismus ist im Kontext des Nürnberger Krupp-Prozesses und in späteren wissenschaftlichen Studien bereits thematisiert worden. Eine umfassende Untersuchung seines Verhältnisses zum Nationalsozialismus gibt es bislang jedoch nicht. Was bedeutete die nationalsozialistische Vergangenheit für sein Wirken an der Unternehmensspitze? Reflektierte er seine Verantwortung? Hat er sich zum Zeitpunkt der Stiftungsgründung mit seinem Handeln beschäftigt? Eine biografische Annäherung an Alfried Krupp, die sich auch diesen Fragen zuwendet, steht bis heute aus.
Prof. Dr. Eckart Conze
Prof. Dr. Eckart Conze ist seit 2003 als Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Seminar für Neuere Geschichte der Philipps-Universität Marburg tätig. Er leitet das Marburger Internationale Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse und wurde 2005 vom damaligen Bundesaußenminister Joschka Fischer in die Unabhängige Historikerkommission des Auswärtigen Amtes berufen, die die Geschichte des Ministeriums und seiner Angehörigen im Nationalsozialismus und den Umgang damit nach 1945 untersuchte.
Über die Krupp-Stiftung
Die gemeinnützige Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung fördert seit 1968 Menschen und Projekte in Kunst und Kultur, Bildung, Wissenschaft, Gesundheit und Sport und hat sich dafür bisher mit 690 Mio. € engagiert. Stifter ist der letzte Alleininhaber der Firma Fried. Krupp, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, dessen Vermögen auf die von ihm errichtete Stiftung überging. Als größte Aktionärin der heutigen thyssenkrupp AG verwendet die Stiftung die ihr aus ihrer Beteiligung zufließenden Erträge ausschließlich für gemeinnützige Zwecke. Mit ihrer Arbeit setzt sie Akzente in der Wissenschafts- und Hochschulentwicklung, sie möchte zur Völkerverständigung beitragen und die Ausbildung junger Generationen verbessern. Seit Jahrzehnten setzt sich die Stiftung für die Aufarbeitung der Geschichte der Firma und Familie Krupp ein: Sie hat u.a. wissenschaftliche Projekte und Publikationen initiiert, die von renommierten Historikern wie Lothar Gall oder Harold James umgesetzt wurden. Am Sitz der Stiftung vermittelt eine Ausstellung in der Villa Hügel Informationen über die Rolle der Firma Krupp im „Dritten Reich“ ebenso wie über die Person Alfried Krupps. Eine App informiert u.a. über die Geschichte Krupps im Nationalsozialismus. Das Historische Archiv Krupp, das umfangreiches Material zu Alfried Krupp verwahrt, steht allen Interessierten offen und unterstützt wissenschaftliche und andere Vorhaben.
Weitere Informationen: www.krupp-stiftung.de/alfried-krupp/
Kontakt
Barbara Wolf
Leiterin Kommunikation, strategische Entwicklung und Transformation
Mobil: +49 (0)162 49 51 225
E-Mail: wolf@krupp-stiftung.de